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JBBG (Jazz Bigband Graz) - Electric Poetry & Lo-Fi Cookie

Electric Poetry & Lo-Fi Cookies“ ist nicht weniger als ein musikhistorisches Scharnier, auf dem sich eine Tür in die Zukunft öffnet.

Gib dem Jazz eine Chance! Die Jazz Bigband Graz gehört zu jenen Großformationen des Jazz, die wenige Monate vor dem Jahrtausendwechsel frischen Wind in die Big Band Landschaft gebracht haben. Auf ihrer neuen CD nennen sie sich nur noch kurz JBBG. Wenn das vielleicht ein wenig an die Reduzierung des Namens Esbjörn Svensson Trio auf EST erinnert, dann ist das nicht ganz ungewollt. Das Logo JBBG symbolisiert einen Neuanfang im virtuellen Zeitalter und doch zugleich auch Kontinuität auf dem Boden der modernen Big Band Geschichte. „Electric Poetry & Lo-Fi Cookies“ klingt nun gar nicht nach lupenreinem Jazz. Gleich im ersten Stück werden dem Hörer gepfefferte Electro-Beats entgegen geschleudert. Die Bläser legen sich darüber wie entgeisterte Ambient-Schwaden. Im zweiten Track verleiht die Theremin-Meisterin Barbara Buchholz der Meute Flügel. Gil Evans hätte an dieser Auslegung von Big Band seine Freude gehabt. „Wir sind uns der disparaten Situation zwischen Namen und Inhalt der CD bewusst“, postuliert Saxofonist Heinrich von Kalnein, der das Ensemble seit der Jahreswende 2002/3 gemeinsam mit Trompeter Horst-Michael Schaffer neuen Ufern entgegen führt. „Wir glauben, dass es an dieser Stelle wichtig ist, die Konsistenz der Big Band herauszustellen. Aber wir wollen mit dem neuen Logo auch ein Trademark setzen. JBBG steht für einen orchestralen Haufen, den man Big Band nennen kann, der aber auch ganz andere Freiheiten zulässt.“

Den beiden visionären Orchester-Leitern gelingt mit ihrer reformierten Big Band, was in der Politik unmöglich erscheint. Sie erweisen sich als Diplomaten, ohne sich aus der Affäre zu ziehen. Und sie können sich nach zwei Seiten orientieren, ohne nach Kompromissen suchen zu müssen. So verabschieden sie sich vom Klischee der Big Band, verzichten jedoch nicht auf ihre Vorzüge. Wer Big Band nie mochte und dafür seine Gründe hatte, wird „Electric Poetry & Lo-Fi Cookies“ hören können, ohne überhaupt auf die Idee zu kommen sein Ohr über einem Big Band-Parkett kreisen zu lassen. Wer jedoch den Klang der Big Band liebt, wird bei JBBG volle Bestätigung finden. John Hollenbeck gab 2005 mit der Produktion „Joys & Desires“ die Richtung der Grazer Formation vor. „Die große Zeit der Big Bands ist natürlich eindeutig vorbei“, konstatiert von Kalnein ohne Wehmut. „Um diesem Dilemma zu entkommen, werden die großen Formationen heute auch häufig Jazz-Orchester genannt. Für Komponisten und Arrangeure ist die Big Band aber immer noch eine genau definierte Ensemble-Form. Ein Streichquartett bleibt ja auch immer ein Streichquartett, egal, welche Musik es spielt. In der öffentlichen Rezeption wird es sicher anders gesehen, und darauf müssen wir reagieren. Bei der Produktion mit John Hollenbeck haben wir ja bereits die Türen in eine neue Richtung geöffnet. Wir wollten eine Big-Band-Produktion machen, die nicht sofort die Angst vor dem Mief auslöst. Die Musik sollte hip und zeitgemäß sein, aber die Big Band sollte auch komplett beschäftigt sein.“

Dazu gehört ein ehrlicher Umgang mit den Möglichkeiten und Grenzen der Big Band. Es ist fatal, wenn Großformationen die Beweglichkeit von Combos vortäuschen, wenn Allstar-Bands Team Spirit heucheln oder jeder Orchesterspieler ein Solo abdrücken muss. All diese Fehler begeht JBBG nicht. „Der Spontaneitätsgrad“, so von Kalnein, „ist erheblich geringer als mit jeder Art von kleinem Ensemble. In der Orchestration kann man dafür unglaublich schöne Farben heraus arbeiten und gegeneinander stellen. Wir machen den Musikern stets die Vorgabe, orchestral zu spielen, weil dadurch bestimmte Big Band typische Klischees ausgeschlossen werden.“

Das Besondere entsteht so gut wie nie von selbst. Die beiden Leader haben sich ausgiebige Gedanken gemacht, wie sie JBBG von vergleichbaren Ensembles abheben können. Die Bestandsaufnahme von Kalneins lautet wie folgt: „Zu unseren Besonderheiten gehört, dass wir einen Pianisten und einen Keyboarder haben. Beide kommen sich überhaupt nicht in die Quere. Der Keyboarder übernimmt ein wenig die Funktion, die sonst der Gitarrist inne hat. Er ist ein Joker, der die Brücke zwischen den melodischen und den rhythmischen Aspekten der Gruppe schlägt. Unser Schlagzeuger Gregor Hilbe hat einen soliden Jazz-Background, ist dann aber in die Elektronik gegangen. Er hat auf der Bühne einen Laptop, den er mit der Big Band verbindet. Zum Beispiel verwendet er im ersten Stück einen Rhythmus-Pattern, der aus gesampleten Sounds von uns Bläsern besteht. Die daraus gebaute Rhythmus-Spur läuft das Schlagzeug ersetzend und begleitend mit. Es gibt niemanden, der das außer ihm kann. Barbara Buchholz ist ein besonderer Gast. Sie steuert der Produktion eine spezielle Farbe bei."

Wenn man an großformatigen Jazz in Österreich denkt, nimmt das Vienna Art Orchestra natürlich eine unangreifbare Pole Position ein. JBBG hatte nur eine Chance, wenn es sich bewusst in einen ästhetischen Gegensatz zum VAO setzte. Schon mit Hollenbeck glückte den Steiermärkern die Umsetzung eines Konzeptes, das sich weder an Solisten noch an der Klanglichkeit des Jazz orientierte. Wenn man in der Champions League der Big Bands mitspielen wollte, galt es, eine Position zu besetzen, die bis dato noch unbesetzt war. Mit Widmungen an Me‘shell Ndegeocello und Django Bates hat JBBG auf „Electric Poetry & Lo-Fi Cookies“ zwei entscheidende Koordinaten auf dem Weg zu einem eigenständigen Sound benannt. Von Kalnein möchte das Spektrum der Einflüsse noch ein wenig erweitern. „Hollenbeck, Vince Mendoza und Maria Schneider auf der Big Band-Seite, Django Bates, Me‘shell Ndegeocello, Geir Lysne und die Szene von Trondheim auf der Seite der Innovation. Auf beide Tendenzen haben wir ein Auge, versuchen aber keinen unserer Einflüsse zu plagiieren.“

Mit „Electric Poetry & Lo-Fi Cookies“ ist JBBG weit mehr gelungen als ein spannendes und abwechslungsreiches Album, das Jazz-Fans Jazz und Jazz-Muffel einfach nur ein gelungenes Stück Musik nennen können. Heinrich von Kalnein und Horst-Michael Schaffer revidieren mit ihrer Formation die Landkarte der europäischen Musik. Mitteleuropa hat wieder einen innovativen Big Band-Schwerpunkt. „Electric Poetry & Lo-Fi Cookies“ ist nicht weniger als ein musikhistorisches Scharnier, auf dem sich eine Tür in die Zukunft öffnet.

Jazz Bigband Graz:
Heinrich von Kalnein (megaphone, altosaxophone), Robert Friedl (clarinet), Klaus Gesing (sopranosaxophone), Herb Berger (mouthharp), Martin Harms (woodwinds), Reinhard Summerer (trombone), Christophe Schweizer (trombone), Philip Yaeger (speaker), Wolfgang Tischhart (trombone), Horst-Michael Schaffer (electric trumpet, vocals), Oliver Kent (piano), Uli Rennert (keyboards, vocoder, lapsteel guitar, machines), Henning Sieverts (bass, cello), Gregor Hilbe (drums, samples, electronics), Martin Iannaccone (speaker), Barbara Buchholz (theremin)
Tracklisting:
1. Trancefactor
2. Some Days Ago... In The Future
3. The Smile Of Smile
4. Shades Of Tango
5. Meshell's Dreamland
Released 2008.
Price: 18,50 EUR