Langen-Müller BSIN03264722 München, 1981, HC, 304 S. mit Schutzumschlag

Dor, Milo - Meine Reisen nach Wien (und andere Verirrungen)

Ich ist ein anderer: was im Vorwort dieses Erzählbandes halb ernst, halb heiter den Autor charakterisiert, nämlich seine doppelte Existenz - ist das Leitmotiv- dieser vollständigen Sammlung von Geschichten Milo Dors.
In einer Welt, in der sich Ideologien und Systeme ,verselbständigt haben und ein Eigenleben führen, kommt das menschliche Ich in Schwierigkei¬ten. Manchmal spaltet es sich: hier das Ich, das sich mit der Umwelt identifizieren will; dort das Ich, das es selbst bleiben oder werden möch¬te und sich gegen die Vereinnah¬mung durch gesellschaftliche und psychische Zwänge wehrt. Manch¬mal ergreift es, weil es die Spannung nicht mehr aushalten kann, verzwei¬felt die Partei der Konventionen und Ideologien: dann kann es zu merk¬würdigen, grotesken Irrealitäten und Auswüchsen kommen. Manchmal wird es zum Anarchisten: auch dann führt die Unvereinbarkeit der eige¬nen Ideen mit der Realität zu tragi¬schen oder skurrilen Ergebnissen.
Gleich nach dem Krieg spielen die Erzählungen des ersten Teils. Der Autor scheint aufzuatmen: wenn¬gleich der Druck der Kriegserinne¬rungen noch anhält, ist doch das Schlimmste vorbei, die Angst ist ge¬wichen. Jetzt gilt es, in einer chaoti¬schen Welt einen Weg des materiel¬len Überlebens zu finden. Men¬schen, die gewohnt waren, ihr Brot redlich zu verdienen, werden zu Schmugglern und Desperados, die aus Mangel an Erfahrung in alle möglichen Schlingen dieser Metiers stolpern.
Der Teil »Unterwegs« arbeitet rück¬blickend die Situation des Krieges auf. Flucht, Angst, Verfolgung sind die Themen. Der Mensch möchte seine Identität bewahren, wird aber in die Psychose des Kriegs gerissen und physisch von den Umständen vernichtet. Gleichwohl behält er je¬weils ein winziges Stück unzerstör¬baren Glaubens.
Die Übermacht gesellschaftlicher Systeme gegenüber dem Indivi¬duum ist auch Thema des dritten Teils. Hier aber wird es mittels Gro¬teske und Satire behandelt, Stilfor¬men, die besonders gut geeignet sind, die Absurdität der Situation des mo¬dernen Menschen zu kennzeichnen. Der vierte Teil beleuchtet die Lage der Schriftsteller, die für das Indivi¬duum Partei ergreifen und - selbst¬verständlich - möchten, daß man sie hört. Man hört sie zwar, schweigt sie aber tot. Endlich charakterisiert Milo Dor, ein österreichischer Schriftstel¬ler, der von Geburt Jugoslawe ist, sein problematisches Verhältnis zu Wien und Österreich. Er fühlt sich Zeit seines Lebens »auf dem falschen Dampfer«, konnte den richtigen nie¬mals finden.
Die Kunst Milo Dors besteht darin, niemals zu direkt und ernst zu wer¬den. Er spielt nur an und schafft durch Distanz die innere Freiheit von den Geschehnissen. Das macht den Reiz, die frische Wirkung und die Treffsicherheit seiner Erzählungen aus.

Milo Dor, 1923 in Budapest als Sohn eines serbischen Arztes geboren, wuchs im Banat und in Belgrad auf. 1942 als Widerstandskämpfer verhaftet, 1943 Zwangsarbeit in Wien. Lebte seit 1948 als freier Schriftsteller in Wien. Sein Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen und Ehrungen ausgezeichnet. Milo Dor starb am 5. Dezember 2005 in Wien.
Price: 9,90 EUR